Vom Kinderheim zur Gedenkstätte

Das Kinderheim in Mümliswil wurde vom Ehepaar Pauline und Bernhard Jäggi gestiftet. Der Bau stammt vom bekannten Bauhaus-Architekten Hannes Meyer und wurde 1939 eröffnet. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz und beherbergt heute die erste nationale Gedenkstätte für Heim- und Verdingkinder.

Bernhard Jäggi (1869-1944) politisierte für die SP im Basler Grossrat und später im Nationalrat. Er war langjähriger Leiter des Verbands der schweizerischen Konsumvereine – heute Coop. Als einer der wichtigsten Förderer der Genossenschaftsbewegung in der Schweiz setze er genossenschaftliche Wohnprojekte sowie Bildungs- und Erziehungseinrichtungen um. Er war auch der Initiator der genossenschaftlichen Siedlung Freidorf in Muttenz, Kanton Baselland. Sie wurde 1921 eröffnet und gehört als erste Vollgenossenschaft der Schweiz zu den bedeutendsten Siedlungsbauten zwischen den Weltkriegen.

Das schwarz-weiss Foto zeigt Pauline und Bernhard Jäggi, wie sie einer Betreuerin über die Schulter schauen. Sie beugt sich zu zwei Kindern, die an einem Holztisch sitzen und malen. Bernhard und Pauline Jäggi in Mümliswil, 1940. Foto: Berty Stoll, Gemeindearchiv Mümliswil.

Gemeinsam mit seiner Ehefrau Pauline führte er die Bernhard Jäggi Stiftung. Die beiden stifteten 1937 das Kinderheim in Mümliswil. Sie wollten körperlich geschwächten Kindern Ferien- und Erholungsaufenthalte ermöglichen. Dabei sollte, so Berhard Jäggi, «auf die Heranbildung von Charakteren im Sinne und Geiste von Heinrich Pestalozzi und Jeremias Gotthelf besonders Gewicht gelegt werden». Pestalozzis Drei-Kreise-Modell entsprechend war das Heim als temporärer oder dauerhafter Ersatz für Elternhaus und Familie gedacht. Nach einer Bauzeit von knapp einem halben Jahr wurde das «Genossenschaftliche Kinderheim» in Mümliswil im Mai 1939 eröffnet.

Hannes Meyer – Architekt und Heimkind

Architekt des Kinderheims war Hannes Meyer (1889 – 1954). Der bedeutende Schweizer Architekt und Urbanist, war zeitweise Direktor der berühmten Kunst-, Design- und Architekturschule Bauhaus in Dessau, Deutschland.

Hannes Meyer kommt aus einer Basler Bauunternehmerfamilie. Sein Vater starb als Meyer zehn Jahre alt war. Er verbrachte als Halbweise einen Teil seiner Kindheit und Jugend im Bürgerlichen Waisenhaus Basel. Meyer absolvierte eine Maurerlehre, wurde später Hochbauzeichner und schliesslich Architekt. Für Bernhard Jäggi und die genossenschaftliche Bewegung plante er 1919 den Bau der Genossenschaftssiedlung Freidorf in Muttenz. Mit diesem Bau erlangte er zum ersten Mal internationale Aufmerksamkeit. 1927 wurde Meyer Leiter der Bauabteilung im Bauhaus in Dessau und 1928 Direktor des mittlerweile legendären Bauhauses. Wegen «kommunistischer Machenschaften» wurde er 1930 entlassen.

Ein schwar-weiss Foto des Basler Architekten Hannes Meyer, der das Kinderheim entwarf Hannes Meyer, 1938. Foto: Judit Kárasz. © Bauhaus-Archiv, Berlin.

Als Architekturdozent war er bis 1936 in Moskau. Die Planung des Mümliswiler Kinderheims fiel in die Jahre 1936 bis 1938, die Meyer ohne Anstellung in der Schweiz verbrachte. 1939 zog er nach Südamerika. In Mexiko- Stadt war er Direktor des Instituts für Städtebau und Planung. Es wurde ihm allerdings bereits 1941 – wiederum aus politischen Gründen – gekündigt. Er schlug sich mit verschiedenen Anstellungen und Bauprojekten durch und kehrte 1949 endgültig in die Schweiz zurück.

Der Bau: Architektur mit einem sozialen Auftrag

Das genossenschaftliche Kinderheim Mümliswil gilt heute als wichtiges Beispiel sozial engagierter Architektur. Zusätzlich von Bedeutung ist, dass der Architekt Hannes Meyer selbst teilweise im Kinderheim aufgewachsen ist. Er wollte deshalb einen kindergerechten Bau schaffen, der möglichst offen und wenig hierarchisch wirkte.

Hannes Meyer war der Meinung, dass Architektur einen sozialen und erzieherischen Auftrag zu erfüllen habe. Als Funktionalist richtete er den Bau ganz nach den zu erfüllenden Aufgaben aus. Das heisst, er konzentrierte sich auf die Bedürfnisse der Kinder. Hannes Meyer war es gleichzeitig wichtig, dass sich der Bau harmonisch in seine Umgebung, also die Landschaft und den dörflichen Kontext, einfügt. Er orientierte sich an den typischen Juragehöften der Umgebung. Holz war deshalb das bevorzugte Baumaterial. Dem Stifter Bernhard Jäggi war es wichtig, beim Bau des Kinderheims das lokale Gewerbe miteinzubeziehen.

Das historische schwarz-weiss Foto zeigt den runden Pavillon in der Mitte des Kinderheims, hier war früher im Erdgeschoss der Speisesaal Das Kinderheim Mümliswil, Ansicht von Süden, um 1965. Gemeindearchiv Mümliswil.

Das Heim besteht aus zwei rechtwinklig zueinander stehenden Flügeln, verbunden durch einen runden, hervorstehenden Pavillon. Im von Stützen getragenen Ostflügel waren früher die Zimmer für die Kinder, im Westflügel Aufenthaltsräume sowie Zimmer für die Angestellten und Gäste. Im Rund-Pavillon befand sich der Speisesaal. Darin befindet sich noch heute der von Hannes Meyer extra entworfene Tisch. Über dem Speisesaal befand sich bis zum Umbau in den 1970er Jahren eine Terrasse, auf der jeweils morgens Gymnastik gemacht wurde.

Vom Kinderheim zur Gedenkstätte

1973 wurde das Kinderheim nach 34 Jahren geschlossen. Unter der Führung des Coop Frauenbundes wurde das Haus in ein «Bildungs- und Ferienheim» umgewandelt. Der runde Sonnenpavillon wurde aufgestockt und überdacht, später wurden die Schlafzimmer im Osttrakt verkleinert. Um 2000 gab der Coop Frauenbund das Gebäude endgültig auf und schrieb es zum Verkauf aus. Projekte wie etwa eine Kletterschule, eine Naturpark-Herberge oder ein Schulungszentrum wurden diskutiert, aber nicht umgesetzt. 2011 konnte die Guido Fluri Stiftung das Haus kaufen. Das Gebäude wurde sanft renoviert und zur ersten nationalen Gedenkstätte für Heim- und Verdingkinder umgebaut. Sie wurde 2013 eröffnet.

Das Mümliswiler Kinderheim und die Guido Fluri Stiftung

In der Gegend aufgewachsen, gehörte Guido Fluri zu den letzten Kindern, die Anfang der 1970er Jahre im Mümliswiler Heim untergebracht waren. 2010 gründete er die Guido Fluri Stiftung. Diese setzt sich dafür ein, Gewalt an Kindern zu verhindern und die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren. 2011 konnte die Stiftung das ehemalige Kinderheim erwerben. Es wurde schonend renoviert und im Mai 2013 als Gedenk­stätte für die ehemaligen Heim- und Verdingkinder eröffnet. Der Historiker Thomas Huonker leistete mit seinen Recherchen wichtige Pionier- und Aufklärungsarbeit über das Leben und den Alltag, aber auch die Missstände, Missbräuche und Übergriffe an den Heim- und Verdingkindern. Die Guido Fluri Stiftung initiierte und finanzierte das Projekt. Es war der Auftakt zum umfassenden Engagement von Guido Fluri zur Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte.

Die ehemalige Justizministerin Evelyne Widmer-Schlumpf im Gespräch mit Ursula Müller-Biondi und ihrem Mann Dr. h.c. Ursula Müller-Biondi, Vorkämpferin für die Rehabilitierung der administrativ Versorgten vor 1981, und ihr Mann im Gespräch mit Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf, Hindelbank, 2010. Foto: © Susanne Schanda.

Guido Fluri lancierte gemeinsam mit einem breit abgestützten Initiativkomitee die Wiedergutmachungsinitiative. Sie kam im Januar 2015 offiziell zustande. Sie forderte die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Schweizer Heim- und Verdingkinder sowie einen Fonds für die Opfer. Der Bundesrat erstellte einen indirekten Gegenvorschlag, der die wichtigsten Anliegen aufgriff. Daraufhin wurde die Initiative zurückgezogen. Das «Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981» trat am 1. April 2017 Kraft. Zahlreiche Opfer erhielten bis heute einen Solidaritätsbeitrag von je 25’000 Franken. Der Abschlussbericht der unabhängigen Expertenkommission administrative Versorgungen im Auftrag des Bundes erschien schliesslich 2019.